Schillers ästhetische Briefe

Inhalte, die Rudolf Steiner in seinem Werk aufgreift und weiterführt.

zusammengestellt von Reinhard Giese



1.Brief

Nein, die Freiheit Ihres Geistes soll mir unverletzlich sein. Ihre eigene Empfindung wird mir die Tatsachen hergeben, auf die ich baue; Ihre eigene Denkkraft wird die Gesetze diktieren, nach welchen verfahren werden soll.

2.Brief

Ist es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein so viel näheres Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?

Der Lauf der Begebenheiten hat dem Genius der Zeit eine Richtung gegeben, die ihn je mehr und mehr von der Kunst des Ideals zu entfernen droht. Diese muss die Wirklichkeit verlassen und sich mit anständiger Kühnheit über das Bedürfnis erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen.

Dass ich dieser reizenden Versuchung widerstehe und die Schönheit der Freiheit vorangehen lasse, glaube ich nicht bloß mit meiner Neigung entschuldigen, sondern durch Grundsätze rechtfertigen zu können. Ich hoffe, Sie zu überzeugen, dass diese Materie weit weniger dem Bedürfnis als dem Geschmack des Zeitalters fremd ist; ja, dass man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische* den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert. Aber dieser Beweis kann nicht geführt werden, ohne dass ich Ihnen die Grundsätze in Erinnerung bringe, durch welche sich die Vernunft überhaupt bei einer politischen Gesetzgebung leitet.

3.Brief

Das große Bedenken also ist, dass die physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee sich bildet, dass um der Würde des Menschen willen seine Existenz nicht in Gefahr geraten darf. Wenn der Künstler an einem Uhrwerk zu bessern hat, so lässt er die Räder ablaufen; aber das lebendige Uhrwerk des Staats muss gebessert werden, indem es schlägt, und hier gilt es, das rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen. Man muss also für die Fortdauer der Gesellschaft eine Stütze aufsuchen, die sie von dem Naturstaat, den man auflösen will, unabhängig macht. Diese Stütze findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des Menschen, der, selbstsüchtig und gewalttätig, vielmehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesellschaft zielt; sie findet sich eben so wenig in seinem sittlichen Charakter, der, nach der Voraussetzung, erst gebildet werden soll, und auf den, weil er frei ist, und weil er nie erscheint, von dem Gesetzgeber nie gewirkt und nie mit Sicherheit gerechnet werden könnte. Es käme also darauf an, von dem physischen Charakter die Willkür und von dem moralischen die Freiheit abzusondern – es käme darauf an, den ersteren mit Gesetzen übereinstimmend, den letztern von Eindrücken abhängig zu machen – es käme darauf an, jenen von der Materie etwas weiter zu entfernen, diesen ihr um etwas näher zu bringen – um einen dritten Charakter zu erzeugen, der, mit jenen beiden verwandt, von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze einen Übergang bahnte und, ohne den moralischen Charakter an seiner Entwicklung zu verhindern, vielmehr zu einem sinnlichen Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit diente.

4.Brief

Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frei zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und darf keine physische Nötigung greifen.

Nun lassen sich aber zwei verschiedene Arten denken, wie der Mensch in der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentreffen, mithin ebenso viele, wie der Staat in den Individuen sich behaupten kann: Entweder dadurch, dass der reine Mensch den empirischen unterdrückt, dass der Staat die Individuen aufhebt, oder dadurch, dass das Individuum Staat wird, dass der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich veredelt.

5.Brief

Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen.

Die losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in das organische Leben zu eilen, fällt in das Elementarreich zurück.

7.Brief

Sind also die von mir aufgestellten Grundsätze richtig und bestätigt die Erfahrung mein Gemälde der Gegenwart, so muss man jeden Versuch einer solchen Staatsveränderung so lange für unzeitig und jede darauf gegründete Hoffnung so lange für schimärisch erklären, bis die Trennung in dem innern Menschen wieder aufgehoben und seine Natur vollständig genug entwickelt ist, um selbst die Künstlerin zu sein und der politischen Schöpfung der Vernunft ihre Realität zu verbürgen. Die Natur zeichnet uns in ihrer physischen Schöpfung den Weg vor, den man in der moralischen zu wandeln hat. Nicht eher, als bis der Kampf elementarischer Kräfte in den niedrigern Organisationen besänftigt ist, erhebt sie sich zu der edeln Bildung des physischen Menschen.

Unterdessen, gebe ich gerne zu, kann mancher Versuch im einzelnen gelingen, aber im Ganzen wird dadurch nichts gebessert sein, und der Widerspruch des Betragens wird stets gegen die Einheit der Maximen beweisen.

9.Brief

Aber ist hier nicht vielleicht ein Zirkel? Die theoretische Kultur soll die praktische herbeiführen, und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein? Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müsste also zu diesem Zweck ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bei aller politischen Verderbnis rein und lauter erhalten. Jetzt bin ich an dem Punkt angelangt, zu welchem alle meine bisherigen Betrachtungen hingestrebt haben. Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.

Gib also, werde ich dem jungen Freund der Wahrheit und Schönheit zur Antwort geben, der von mir wissen will, wie er dem edeln Trieb in seiner Brust, bei allem Widerstand des Jahrhunderts, Genüge zu tun habe, gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen. Diese Richtung hast du ihr gegeben, wenn du, lehrend, ihre Gedanken zum Notwendigen und Ewigen erhebst, wenn du, handelnd oder bildend, das Notwendige und Ewige in einen Gegenstand ihrer Triebe verwandelst. Fallen wird das Gebäude des Wahns und der Willkürlichkeit, fallen muss es, es ist schon gefallen, sobald du gewiss bist, dass es sich neigt, aber in dem innern, nicht bloß in dem äußern Menschen muss es sich neigen. In der schamhaften Stille deines Gemüts erziehe die siegende Wahrheit, stelle sie aus dir heraus in der Schönheit, dass nicht bloß der Gedanke ihr huldige, sondern auch der Sinn ihre Erscheinung liebend ergreife. Und damit es dir nicht begegne, von der Wirklichkeit das Muster zu empfangen, das du ihr geben sollst, so wage dich nicht eher in ihre bedenkliche Gesellschaft, bis du eines idealistischen Gefolges in deinem Herzen versichert bist. Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber, was sie bedürfen, nicht, was sie loben. Ohne ihre Schuld geteilt zu haben, teile mit edler Resignation ihre Strafen und beuge dich mit Freiheit unter das Joch, das sie gleich schlecht entbehren und tragen. Durch den standhaften Mut, mit dem du ihr Glück verschmähest, wirst du ihnen beweisen, dass nicht deine Feigheit sich ihren Leiden unterwirft. Denke sie dir, wie sie sein sollten, wenn du auf sie zu wirken hast, aber denke sie dir, wie sie sind, wenn du für sie zu handeln versucht wirst. Ihren Beifall suche durch ihre Würde, aber auf ihren Unwert berechne ihr Glück, so wird dein eigner Adel dort den ihrigen aufwecken und ihre Unwürdigkeit hier deinen Zweck nicht vernichten. Der Ernst deiner Grundsätze wird sie von dir scheuchen, aber im Spiel ertragen sie sie noch; ihr Geschmack ist keuscher als ihr Herz, und hier musst du den scheuen Flüchtling ergreifen. Ihre Maximen wirst du umsonst bestürmen, ihre Taten umsonst verdammen, aber an ihrem Müßiggang kannst du deine bildende Hand versuchen. Verjage die Willkür, die Frivolität, die Rohigkeit auf ihren Vergnügungen, so wirst du sie unvermerkt auch aus ihren Handlungen, endlich aus ihren Gesinnungen verbannen. Wo du sie findest, umgib sie mit edeln, mit großen, mit geistreichen Formen, schließe sie ringsum mit den Symbolen des Vortrefflichen ein, bis der Schein die Wirklichkeit und die Kunst die Natur überwindet.

Die Schönheit müsste sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen. Zu dem reinen Begriff der Menschheit müssen wir uns also nunmehr erheben, und da uns die Erfahrung nur einzelne Zustände einzelner Menschen, aber niemals die Menschheit zeigt, so müssen wir auf diesen ihren individuellen und wandelbaren Erscheinungsarten das Absolute und Bleibende zu entdecken und durch Wegwerfung aller zufälligen Schranken uns der notwendigen Bedingungen ihres Daseins zu bemächtigen suchen. Zwar wird uns dieser transzendentale Weg eine Zeit lang aus dem traulichen Kreis der Erscheinungen und aus der lebendigen Gegenwart der Dinge entfernen und auf dem nackten Gefilde abgezogener Begriffe* verweilen; aber wir streben ja nach einem festen Grund der Erkenntnis, den nichts mehr erschüttern soll, und wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern.

11.Brief

Person und Zustand – das Selbst und seine Bestimmungen – die wir uns in dem notwendigen Wesen als ein und dasselbe denken, sind ewig zwei in dem endlichen. Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des Zustands beharrt die Person. Wir gehen von der Ruhe zur Tätigkeit, vom Affekt zur Gleichgültigkeit, von der Übereinstimmung zum Widerspruch; aber wir sind doch immer und was unmittelbar aus uns folgt, bleibt. In dem absoluten Subjekt allein beharren mit der Persönlichkeit auch alle ihre Bestimmungen, weil sie aus der Persönlichkeit fließen. Alles, was die Gottheit ist, ist sie deswegen, weil sie ist: Sie ist folglich alles auf ewig, weil sie ewig ist. Da in dem Menschen, als endlichem Wesen, Person und Zustand verschieden sind, so kann sich weder der Zustand auf die Person, noch die Person auf den Zustand gründen. Wäre das letztere, so müsste die Person sich verändern; wäre das erstere, so müsste der Zustand beharren: Also in jedem Fall entweder die Persönlichkeit oder die Endlichkeit aufhören. Nicht, weil wir denken, wollen, empfinden, sind wir; nicht, weil wir sind, denken, wollen, empfinden wir. Wir sind, weil wir sind; wir empfinden, denken und wollen, weil außer uns noch etwas anderes ist.

16.Brief

Aus der Wechselwirkung zwei entgegen gesetzter Triebe und auf der Verbindung zwei entgegen gesetzter Prinzipien haben wir das Schöne hervorgehen sehen, dessen höchstes Ideal also in dem möglichst vollkommensten Bund und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu suchen sein. Dieses Gleichgewicht bleibt aber immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann. In der Wirklichkeit wird immer ein Übergewicht des einen Elements über das andere übrig bleiben, und das Höchste, was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung zwischen beiden Prinzipien bestehen, wo bald die Realität, bald die Form überwiegend ist. Die Schönheit in der Idee ist also ewig nur eine unteilbare einzige, weil es nur ein einziges Gleichgewicht geben kann; die Schönheit in der Erfahrung hingegen wird ewig eine doppelte sein, weil bei einer Schwankung das Gleichgewicht auf eine doppelte Art, nämlich diesseits und jenseits, kann übertreten werden.

17.Brief

Jetzt aber steigen wir aus der Region der Ideen auf den Schauplatz der Wirklichkeit herab, um den Menschen in einem bestimmten Zustand, mithin unter Einschränkungen, anzutreffen, die nicht ursprünglich aus seinem bloßen Begriff, sondern aus äußern Umständen und aus einem zufälligen Gebrauch seiner Freiheit fließen.

23.Brief

Soll er fähig und fertig sein, auf dem engen Kreis der Naturzwecke sich zu Vernunftzwecken zu erheben, so muss er sich schon innerhalb der ersteren für die letztern geübt und schon seine physische Bestimmung mit einer gewissen Freiheit der Geister, d.i. nach Gesetzen der Schönheit, ausgeführt haben. Und zwar kann er dieses, ohne dadurch im geringsten seinem physischen Zweck zu widersprechen. Die Anforderungen der Natur an ihn gehen bloß auf das, was er wirkt, auf den Inhalt seines Handelns; über die Art, wie er wirkt, über die Form desselben, ist durch die Naturzwecke nichts bestimmt.

Ein edler Geist begnügt sich nicht damit selbst frei zu sein; er muss alles andere um sich her, auch das Leblose in Freiheit sehen. Schönheit aber ist der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung.

24.Brief

Er soll aber keines von beiden, er soll Mensch sein; die Natur soll ihn nicht ausschließend und die Vernunft soll ihn nicht bedingt beherrschen. Beide Gesetzgebungen sollen vollkommen unabhängig voneinander bestehen und dennoch vollkommen einig sein.

25.Brief

Jene drei Momente, welche ich am Anfang des vierundzwanzigsten Briefs namhaft machte, sind also zwar, im Ganzen betrachtet, drei verschiedene Epochen für die Entwicklung der ganzen Menschheit und für die ganze Entwicklung eines einzelnen Menschen, aber sie lassen sich auch bei jeder einzelnen Wahrnehmung eines Objekts unterscheiden und sind mit einem Wort die notwendigen Bedingungen jeder Erkenntnis, die wir durch die Sinne erhalten.

27.Brief

Wie übel würde er sich also raten, wenn er den Weg zum Ideal einschlagen wollte, um sich den Weg zur Wirklichkeit und Wahrheit zu ersparen! Von dem Schein, so wie er hier genommen wird, möchten wir also für die Wirklichkeit nicht viel zu besorgen haben; desto mehr dürfte aber von der Wirklichkeit für den Schein zu befürchten sein. An das Materielle gefesselt, lässt der Mensch diesen lange Zeit bloß seinen Zwecken dienen, ehe er ihm in der Kunst des Ideals eine eigene Persönlichkeit zugesteht. Zu dem letztern bedarf es einer totalen Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise, ohne welche er auch nicht einmal auf dem Weg zum Ideal sich befinden würde. Wo wir also Spuren einer uninteressierten freien Schätzung des reinen Scheins entdecken, da können wir auf eine solche Umwälzung seiner Natur und den eigentlichen Anfang der Menschheit in ihm schließen. Spuren dieser Art finden sich aber wirklich schon in den ersten rohen Versuchen, die er zur Verschönerung seines Daseins macht, selbst auf die Gefahr macht, dass er es dem sinnlichen Gehalt nach dadurch verschlechtern sollte.

Selbst in der unbeseelten Natur zeigt sich ein solcher Luxus der Kräfte und eine Laxität der Bestimmung, die man in jenem materiellen Sinn gar wohl Spiel nennen könnte. Der Baum treibt unzählige Keime, die unentwickelt verderben, und streckt weit mehr Wurzeln, Zweige und Blätter nach Nahrung aus, als zu Erhaltung seines Individuums und seiner Gattung verwendet werden. Was er von seiner verschwenderischen Fülle ungebraucht und ungenossen dem Elementarreich zurückgibt, das darf das Lebendige in fröhlicher Bewegung verschwelgen.

Eine schönere Notwendigkeit kettet jetzt die Geschlechter zusammen, und der Herzen Anteil hilft das Bündnis bewahren, das die Begierde nur launisch und wandelbar knüpft. Aus ihren düstern Fesseln entlassen, ergreift das ruhigere Auge die Gestalt, die Seele schaut in die Seele, und aus einem eigennützigen Tausch der Lust wird ein großmütiger Wechsel der Neigung. Die Begierde erweitert und erhebt sich zur Liebe, sowie die Menschheit in ihrem Gegenstand aufgeht, und der niedrige Vorteil über den Sinn wird verschmäht, um über den Willen einen edleren Sieg zu erkämpfen. Das Bedürfnis, zu gefallen, unterwirft den Mächtigen des Geschmackes zartem Gericht; die Lust kann er rauben, aber die Liebe muss eine Gabe sein. Um diesen höhern Preis kann er nur durch Form, nicht durch Materie ringen. Er muss aufhören, das Gefühl als Kraft zu berühren und als Erscheinung dem Verstand gegenüber stehen; er muss Freiheit lassen, weil er der Freiheit gefallen will. Sowie die Schönheit den Streit der Naturen in seinem einfachsten und reinsten Exempel, in dem ewigen Gegensatz der Geschlechter löst, so löst sie ihn – oder zielt wenigstens dahin, ihn auch in dem verwickelten Ganzen der Gesellschaft zu lösen und nach dem Muster des freien Bundes, den sie dort zwischen der männlichen Kraft und der weiblichen Milde knüpft, alles Sanfte und Heftige in der moralischen Welt zu versöhnen. Jetzt wird die Schwäche heilig, und die nicht gebändigte Stärke entehrt; das Unrecht der Natur wird durch die Großmut ritterlicher Sitten verbessert. Den keine Gewalt erschrecken darf, entwaffnet die holde Röte der Scham und Tränen ersticken eine Rache, die kein Blut löschen konnte. Selbst der Hass merkt auf der Ehre zarte Stimme, das Schwert des Überwinders verschont den entwaffneten Feind, und ein gastlicher Herd raucht dem Fremdling an der gefürchteten Küste, wo ihn sonst nur der Mord empfing. Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet. Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt – wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreis des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüber stehen. Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs. Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie bloß (moralisch) notwendig machen, indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht. Wenn schon das Bedürfnis den Menschen in die Gesellschaft nötigt und die Vernunft gesellige Grundsätze in ihm pflanzt, so kann die Schönheit allein ihm einen geselligen Charakter erteilen. Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem Individuum stiftet. Alle andern Formen der Vorstellung trennen den Menschen, weil sie sich anschließend entweder auf den sinnlichen oder auf den geistigen Teil seines Wesens gründen; nur die schöne Vorstellung macht ein Ganzes aus ihm, weil seine beiden Naturen dazu zusammenstimmen müssen. Alle andern Formen der Mitteilung trennen die Gesellschaft, weil sie sich ausschließend entweder auf die Privatempfänglichkeit oder auf die Privatfertigkeit der einzelnen Glieder, also auf das Unterscheidende zwischen Menschen und Menschen, beziehen; nur die schöne Mitteilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht. Die Freuden der Sinne genießen wir bloß als Individuen, ohne dass die Gattung, die in uns wohnt, daran Anteil nähme; wir können also unsere sinnlichen Freuden nicht zu allgemeinen erweitern, weil wir unser Individuum nicht allgemein machen können. Die Freuden der Erkenntnis genießen wir bloß als Gattung, und indem wir jede Spur des Individuums sorgfältig aus unserm Urteil entfernen; wir können also unsere Vernunftfreuden nicht allgemein machen, weil wir die Spuren des Individuums aus dem Urteil anderer nicht so, wie aus dem unsrigen, ausschließen können. Das Schöne allein genießen wir als Individuum und als Gattung zugleich, d.h. als Repräsentanten der Gattung. Das sinnliche Gute kann nur einen Glücklichen machen, da es sich auf Zueignung gründet, welche immer eine Ausschließung mit sich führt; es kann diesen einen auch nur einseitig glücklich machen, weil die Persönlichkeit nicht daran Teil nimmt. Das absolut Gute kann nur unter Bedingungen glücklich machen, die allgemein nicht vorauszusetzen sind; denn die Wahrheit ist nur der Preis der Verleugnung, und an den reinen Willen glaubt nur ein reines Herz. Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergisst seiner Schranken, solang es ihren Zauber erfährt. Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, soweit der Geschmack regiert und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet. Dieses Reich erstreckt sich aufwärts, bis wo die Vernunft mit unbedingter Notwendigkeit herrscht und alle Materie aufhört; es erstreckt sich niederwärts, bis wo der Naturtrieb mit blinder Nötigung waltet und die Form noch nicht anfängt; ja selbst auf diesen äußersten Grenzen, wo die gesetzgebende Macht ihm genommen ist, lässt sich der Geschmack doch die vollziehende nicht entreißen. Die ungesellige Begierde muss ihrer Selbstsucht entsagen und das Angenehme, welches sonst nur die Sinne lockt, das Netz der Anmut auch über die Geister auswerfen. Der Notwendigkeit strenge Stimme, die Pflicht, muss ihre vorweisende Formel verändern, die nur der Widerstand rechtfertigt, und die willige Natur durch ein edleres Zutrauen ehren. Aus den Mysterien der Wissenschaft führt der Geschmack die Erkenntnis unter den offenen Himmel des Gemeinsinns heraus und verwandelt das Eigentum der Schulen in ein Gemeingut der ganzen menschlichen Gesellschaft. In seinem Gebiet muss auch der mächtigste Genius sich seiner Hoheit begeben und zu dem Kindersinn vertraulich hernieder steigen. Die Kraft muss sich binden lassen durch die Huldgöttinnen und der trotzige Löwe dem Zaum eines Amors gehorchen. Dafür breitet er über das physische Bedürfnis, das in seiner nackten Gestalt die Würde freier Geister beleidigt, seinen mildernden Schleier aus und verbirgt uns die entehrende Verwandtschaft mit dem Stoff in einem lieblichen Blendwerk von Freiheit. Beflügelt durch ihn, entschwingt sich auch die kriechende Lohnkunst dem Staub, und die Fesseln der Leibeigenschaft fallen, von seinem Stab berührt, von dem Leblosen wie von dem Lebendigen ab. In dem ästhetischen Staat ist alles, auch das dienende Werkzeug, ein freier Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, und der Verstand, der die duldende Masse unter seine Zwecke gewalttätig beugt, muss sie hier um ihre Beistimmung fragen. Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte; und wenn es wahr ist, dass der schöne Ton in der Nähe des Thrones am frühesten und am vollkommensten reift, so müsste man auch hier die gütige Schickung erkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealistische Welt zu treiben. Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins? Und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder fein gestimmten Seele; der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigene schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.