Der Weg zum Begriff Dreigliederung des sozialen Organismus



„…war heute drei Stunden bei Dr. Steiner in der Motzstraße. Vor mir steht die Lösung von allem. Weiß, daß es keine andere geben kann. „Dreigliederung des sozialen Organismus“ hat er genannt, was er wie das Ei des Columbus vor mich hingestellt hat. In den nächsten Tagen will er die Idee mit mir ausarbeiten. Werden wohl Wochen daraus werden.

Dann zu Fuß durch den Tiergarten nach Haus. Der Mensch ist doch ein komisches Ding! Ein wundervoller Maiabend – Jubeln der Vögel – Gurren der Wildtauben -- , und ich in einer Stimmung, als hätte ich mich gerade verlobt oder das Abitur bestanden oder so ähnlich. Gehe wie auf Sprungfedern und das alles in einer Art von Gebetsstimmung….“*

Es ist kein Wunder, dass Otto Graf Lerchenfeld in dieser Stimmung am gleichen Maiabend 1917 seine Erinnerungen aufgeschrieben hat. Aufgrund seiner Frage stellt Rudolf Steiner einem Menschen zum ersten Mal seine Erkenntnisse für die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens unter dem Begriff Dreigliederung des sozialen Organismus dar. In einem Vortrag benutzt er diesen Begriff erst viel später am 25.1.1919.

War es der Zeitsituation des Ersten Weltkriegs geschuldet? Oder musste er noch viele Inhalte sich erarbeiten, um den Begriff zu klären und um diese Idee in den richtigen Rahmen einzuordnen?



Entwicklung des Begriffes Dreigliederung bis zum 25.1.1919



Rudolf Steiner beschreibt in seiner Autobiographie „Mein Lebensgang“, das durch das Lesen von Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung, durch das Studium der Naturwissenschaften und durch das, was ihm auf geistige Art anschaubar war, sein Blick schon 1882 zu einer noch ganz unvollkommenen Art auf die Dreigliederung der menschlichen Wesenheit fiel.

In einem Vortrag am 2.1. 1906 sagt Rudolf Steiner, dass die heutige Kultur nur als drei Gebiete zu erfassen ist. Anhand der Figur des Capesius aus seinen Mysteriendramen beschreibt er 1913 das große Weltgesetz der Dreizahl/Dreiheit im Werdegang der physischen und der höheren Welten.

1914 greift er die Dreigliederung des Menschen nach Leib, Seele und Geist wieder auf, die er schon 1904 in seiner Schrift „Theosophie“ beschrieben hatte. Vom Menschen her eröffnet Rudolf Steiner die Perspektive für den Zusammenhang mit den drei großen Worten der Französischen Revolution. In der physischen Welt ist das wichtigste Ideal die Brüderlichkeit, in der seelischen die Freiheit und in der geistigen die Gleichheit. Am 2.10.1916 formuliert er ausführlich, dass Geisteswissenschaft und spirituelles Leben eine Struktur des Erdenlebens für den dreigliedrigen Menschen begründen werden.

Am 14.11.1917 spricht Rudolf Steiner zum ersten Mal von drei sozialen Lebensgebieten, kommt aber noch nicht zu einer klar gegliederten inhaltlichen Beschreibung. Dies kennzeichnet auch mehrere weitere Hinweise in der Zeit bis Ende 1918, in denen er von Trinität und Dreigliederung spricht.

Zum ersten Mal beschreibt er drei Glieder im menschlichen Zusammenleben am 24.11.1918. In dieser Zeit nach dem Waffenstillstand des Ersten Weltkrieges gibt Rudolf Steiner Richtlinien, aber er findet noch nicht zum endgültigen Begriff. In den Vorträgen spricht er von der Dreigliederung der sozialen Struktur, von sozialer Dreigliederung auf Erkenntnis des Menschen, von dreifacher Gliederung der Gesellschaft, von dieser Dreigliederung, von der dreigliedrigen Idee und von Dreigliederung der sozialen Ordnung.



Entwicklung des Begriffes sozialer Organismus bis zum 25.1.1919



Rudolf Steiner beschäftigte sich von Anfang an in seinem Werk mit dem Begriff Organismus. Auf der ersten Seite seiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung 1884 schreibt er Goethe die Entdeckung des Wesens des Organismus zu. Schon am 27.7.1881 schreibt er in einem Brief, dass er das Buch von Heinrich Deinhardt über die Ästhetischen Briefe Schillers gelesen hat. In diesem Buch von 1860 steht der Begriff sozialer Organismus auf Seite 165 zweimal.

Ab 1913 stellt Rudolf Steiner dar, wie andere Denker z.B. Hegel, Planck und andere den Begriff Organismus gebrauchen, benutzt ihn aber selbst auch in verschiedener Weise z.B. als Ich-Organismus, für das Weltenall und häufiger für die Erde. Daneben gebraucht er die Begriffe physischer, seelischer und geistiger Organismus des Menschen seit seiner ersten Veröffentlichung. Rudolf Steiner weist oft auf die Wurzeln in der geistigen Welt hin, wenn er z.B. die Erde als beseelten und durchgeistigten Organismus beschreibt.

Ab 1916 benutzt er den Begriff äußere soziale Ordnung, vorher sprach er von Kulturgebieten und sozialen Lebensgebieten. Ende 1916 gebraucht Rudolf Steiner den Begriff sozialer Organismus zweimal unvermittelt und unbegründet, obwohl er ihn im August 1916 kritisiert hatte. Auch 1917 kritisiert er weiterhin den Gebrauch des Begriffes mehrmals und definiert ihn dann aber als einen Begriff, der die ganze Erde umfasst und durch den Menschen die geistige Dimension beinhaltet.

Rudolf Steiner benutzt hauptsächlich den Begriff soziale Ordnung und ab 1918 zusätzlich den Begriff soziale Struktur. Mehrmals weist er darauf hin, dass nicht aus der naturwissenschaftlichen Forschung, sondern nur aus der Geisteswissenschaft heraus die richtigen Begriffe und Gesetze des sozialen Lebens gefunden werden können.



Dreigliederung des sozialen Organismus



Erst nach dem Waffenstillstand 1918 spricht Rudolf Steiner in Vorträgen intensiv über das soziale Zusammenleben und stellt mehrere wesentliche Erkenntnisse dar. Am 24.1.1919 bringt er zum ersten Mal die drei Glieder in den Zusammenhang mit dem sozialen Organismus und am 25.1.1919 zum ersten Mal den Begriff in der Formulierung Dreigliederung des sozialen Organismus. Danach benutzt er diesen Begriff oder soziale Dreigliederung fast ausschließlich.

Der Zeitpunkt der Darstellung am 24.1. und 25.1.1919 ergibt sich für mich aus den sozialen Gegebenheiten. Es hatten einige aktive Anthroposophen durch die Zeitsituation und Vorträge Rudolf Steiners motiviert, um Gespräche zu sozialen Fragen und politischen Aktivitäten gebeten. Diese fanden ab dem 25.1.1919 in Dornach statt. Am 24.1. werden sie schon anwesend gewesen sein und Rudolf Steiner konnte in diesen beiden Vorträgen die inhaltliche Begründung und einen aussagekräftigen Begriff für die politische Arbeit ab Februar 1919 öffentlich formulieren.



Reinhard Giese



* Dieses Zitat stammt aus Roman Boos „Rudolf Steiner während des Weltkrieges“ Dornach 1933 Seite 58. Alle anderen Angaben können in den Zitatlisten zur Begriffsbildung nachgelesen werden.